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Wie man Dinge erledigt und kreative Schulden loswird

Viele Leute fragen mich, wie ich so viele Kollaborationen und Projekte gleichzeitig handhaben und erfolgreich abschließen kann. Es gibt leider keine einfache Antwort, aber habe ein paar Tipps und Tricks gesammelt, wie ich wiederkehrende Probleme löse und produktiv bleibe.

Kreative Schulden

Technische Schulden passieren, wenn man eine Lösung schnell und einfach umsetzt ohne über die langfristigen Konsequenzen nachzudenken. Es ist ein Begriff aus der Softwareentwicklung, der den großen Berg an Arbeit beschreibt, der entsteht, wenn man ein Problem beheben möchte, das aus einer lang gefällten Entscheidung entstanden ist. Dieses Konzept lässt sich auf viele Bereiche erweitern, wie auch der kreativen Arbeit. Kreative Schulden entstehen, wenn neue Arbeit angefangen wird, bevor die Altlasten abgeschlossen oder abgebrochen wurden. Damit diese gar nicht erst entstehen, wäre es besser (a) ein gutes Konzept zu haben (b) das Konzept zu prüfen, (c) laufende Projekte im Auge zu behalten und (d) alles gut zu dokumentieren. Kreativität kann sich gerne frei entfalten, doch wenn man Projekte abschließen möchte, sollte man einige Regeln befolgen.

Größte Herausforderungen und Ablenkungen

Schau, dort ist ein Eichhörnchen

Die Versuchung ein spontanes Gitarrenriff sofort in einen neuen Song zu wandeln ist sehr groß. Wenn es dir nicht auf Anhieb gelingt, deine Idee herunterzuschreiben, wirst du sie nächste Woche vergessen. Allerdings fehlt dir die Zeit es jetzt zu tun, also blebit es bei einem Gitarrenriff oder einem Loop. Nach einigen Monaten kommen dutzende solcher Schnippsel zu Stande, aber noch lange kein Song. Wenn du dir die alten Entwürfe ansiehst, wirst du nicht mehr in der Lage sein, dich in das Gefühl oder den Gedanken zu versetzen, der zu dieser Idee geführt hat. Du wirst eine halbe Stunde klimpern und keine passende Strophe zu einem bestehenden Refrain finden. Wenn du mehrere Loops in einen Song verbaust wird es nach Stückwerk klingen. Es geht nicht voran. Das Schlimmste daran ist, dass du dich nicht von deinen 8-Takt-Loops und Gitarrenriffs trennen kannst, weil in jedem ein potentieller Hit steckt.

Wühle in deinen Archiven. Wie viele dieser 8-Takt-Loops hast du zu einem fertigen Song ergänzt? Wahrscheinlich wäre es besser, eine sehr schlecht gespielte Demo des ganzen Songs aufzunehmen als er noch präsent war. Vergiss dabei nicht, Akkorde, Tabs oder Text aufzuschreiben. Wenn du den Song irgendwann richtig aufnehmen möchtest, wird es dir viel leichter fallen, ihn zu lernen und dich in dieses Gefühl oder dieses Thema hinein zu versetzen.

Vernachlässigung deiner Bedürfnisse

Viele Kreative sind top motiviert und inspiriert, wenn sie eine Kollaboration eingehen. Bei so viel toller Musik würde am liebsten zu allem und jedem zusagen. Meistens können ein, zwei Songs konzentriert und moviert aufgenommen werden. Wenn man sich die Nacht um die Ohren schlägt, kann man die ein oder andere Skizze aufnehmen, doch die Inspiration ist irgendwann dahin. Am Ende fühlt man sich schuldig, so viele Versprechen eingegangen zu sein, die man nicht einhalten kann. Drei Monate nach der Zusage wegzutreten fühlt sich falsch an. Also verschiebt man den Song, bis man mehr Zeit oder eine Idee hat. Nach einigen Wochen oder Monaten werden die anderen Beteiligten unruhig, weil sie immer noch auf deinen Part warten.

Sei ehrlich. Gib zu, dass du dich übernommen und verzettelt hast. Entscheide ob du (a) zurücktrittst und Brücken verbrennst oder (b) das Versprechen mit massiver Verspätung einhältst. Gehe auf gar keinen Fall neue Projekte ein, bis du deinen Stapel aufgeräumt hast! Auf langer Sicht sollte man lernen, seine Kapazität besser einzuteilen und herausfinden, warum man mit jemandem zusammenarbeiten möchte. Sage „nein“, wenn du zu viel zu tun hast. Breche im Notfall ab, bevor irgendetwas für dich aufgenommen, angepasst oder geschrieben wurde. Das ist immer noch besser als ein Projekt jahrelang vor sich her zu schieben, weil deine Mitmusiker*innen die Rolle neu besetzen können, ohne den Song komplett neu aufzunehmen.

Squirrel / Pixabay
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Zu viele Projekte horten

Nicht jede Person eignet sich für’s Multitasking. Ich mache das schon seit Jahren, weil ich nicht an einer traurigen Ballade arbeiten kann, wenn ich wütend bin. Also habe ich mindestens zwei, häufig sogar fünf komplett unterschiedliche Projekte gleichzeitig. Da ich von den Aufnahmen anderer abhängig bin, nutze ich die Wartezeit, um an anderen Projekten zu arbeiten oder Social Media Posts vorzubereiten. Multitasking ist in Ordnung, solange du die Stände der unterschiedlichen Songs gut dokumentieren kannst und genug Selbstdisziplin besitzt, etwas durchzuziehen auch wenn dir aktuell nicht danach ist eine Ballade zu mastern.

Multitasking kann jedoch auch als Ausrede dienen, möglichst beschäftigt zu wirken oder zu prokrastinieren. Manche Personen haben Angst davor, Werke abzuschließen, abzubrechen oder zuzugeben, dass sie festhängen und Hilfe benötigen. Zu viele Projekte gleichzeitig kann auch zur Entscheidungsparalyse führen. Welchen Song mache ich als nächstes? Was fehlte diesem Song nochmal? Solltest du bemerken, dass du ständig zwischen den Songs wechselst ohne einen abzuschließen, hast du dein Kapazitätslimit erreicht oder steckst in einem kreativen Tief. Dazu mehr unten.

Ich habe eine riesige Liste in einer Tabellenkalkulation, wo ALLE laufenden Projekte mit Status und To Do’s gekennzeichnet sind. So weiß ich jederzeit, bei wem der Song liegt und was an dem Song noch zu tun ist. Wenn du eine eher chaotische und spontane Person bist, wird dir keine Liste helfen. Setze dir stattdessen eine maximale Anzahl paralleler Projekte, arbeite diese schnellstmöglich ab und lerne „Nein“ zu sagen.

Die Perfektionismus Falle

Wenn ich mit anderen Songwriter*innen rede, höre ich häufig „Ich kann diesen Song nicht abschließen. Da muss ein Solo rein, aber es ist nicht gut genug.“ Es ist in Ordnung festzustecken. Doch manchmal müssen wir Entscheidungen treffen, um Projekte zu beenden. Sollen wir das bestmögliche Solo (und damit auch eine Verzögerung von Monaten und Jahren) oder ein durchschnittliches Solo (um den Song einfach mal abzuschließen) anstreben? Selbst wenn du dich für das bestmögliche Solo entscheidest, bedeutet das nicht, dass DU es spielen musst. Wenn du zu lange auf Inspiration wartest, könntest du jemanden fragen, ob er oder sie einspringt. Vielleicht kommt dabei etwas zu Stande mit dem du nie gerechnet hättest. Viele Hörer*innen wird es nicht kümmern, ob das Solo nun von einer Orgel oder einer Gitarre gespielt wird, solange es in den Song passt. Dir kann niemand in den Kopf sehen und die ursprüngliche Idee hören.

Den kritischen Pfad ignorieren

Ich sehe Songs als Projekte. Meine Rolle als Songwriterin, Arrangeurin und Produzentin ist daher sehr nah verwandt mit Projektmanagement. Ich habe ein klares ZIel (einen neuen Song veröffentlichen), eine Deadline (Veröffentlichungsdatum), eine Produktvision (zum Beispiel einen Hard Rock Song über einen Trip auf der Route 66) und ein Team (Bandmitglieder). Ich kann es in Meilensteine (Skizze, Recording, Mixing) definieren und Unteraufgaben (Gitarren aufnehmen) zerlegen, die ich unterschiedlichen Leuten zuordnen kann.

Wenn du tief im Projektmanagement steckst, wirst du den Begriff „kritischen Pfad“ kennen. Darunter versteht man die längste Kette zusammenhängender Aufgaben, die ohne die vorherige nicht abgeschlossen werden kann. Dies kann große Auswirkungen auf Dauer und Erfolg des Projektes haben. Der kritische Pfad zeigt dir, dass du nicht alles parallelisieren kannst. So ist es auch im Songwriting – Es ist sinnlos den Gesang zeitgleich zum Instrumental aufzunehmen. Der Sänger wird sich niemals in den Groove einfinden, wenn er den Song nicht kennt. Wahrscheinlich kollidiert er im Blindflug mit der Lead Gitarristin, sodass einer von den beiden neu aufnehmen muss. Schon ist der Stress vorprogrammiert.

Vermeide das Chaos, indem du den kritischen Pfad identifizierst und alle Beteiligten dazu zwingst, sich daran zu halten. Personen, die das nicht einsehen, sind vielleicht nicht dafür geeignet in einem komplexen Projekt mit zahlreichen Abhängigkeiten zu arbeiten. Du kannst weiterhin Spaß in einer Jam Session haben oder zu Zweit aufnehmen, aber größere Verkettungen wie bei virtuellen Bands oder musikalischen Kettenbriefen sind nicht möglich, wenn sich deine Leute nicht an Regeln halten. Irgendwann wirst du an den Punkt kommen schwere Entscheidungen zu treffen, wie: abbrechen, neu besetzen oder verschieben. Das macht niemanden glücklich.

Der Tank ist leer

Keine Ideen mehr? Zu viele Projekte gleichzeitig? Manchmal ist es besser keine neuen Projekte anzunehmen, um Dinge zuende zu machen. Es ist nichts Schlimmes daran eine kreative Pause einzulegen, wenn du es allen Beteiligten kommunizierst. Du musst nicht 24/7 erreichbar sein und 365 Songs in einem Jahr schreiben. Wer so viel schreibt, riskiert sogar noch größere kreative Schulden anzuhäufen.

Gönn dir eine Pause und entscheide, welche Songs es wirklich wert sind, aufgenommen und abgeschlossen zu werden. Gibt es manche, die du selbst aufnehmen kannst? Manche, wo du Freunde fragen könntest? Sollen manche abgebrochen oder archiviert werden? Beginne keine neuen Projekte, solange du auf einem Berg von unfertigen Songs sitzt. Sonst werden deine kreativen Schulden größer und größer. Es wird dir auch nicht helfen, dich zu erholen.

Wie werde ich meine kreativen Schulden los?

  • Setze dir ein Limit an parallel laufenden Projekten
    Denke darüber nach wie viele Projekte du gleichzeitig aufnehmen oder managen kannst. Beim Multitasking kann es helfen, bewusst sehr unterschiedliche Songs vorzunehmen.
  • Gebe deinen Skizzen ein Verfallsdatum
    Setze dir eine Deadline für deine unfertigen Skizzen, 8-Takt-Loops und Gitarrenriffs. Lösche oder archiviere, was du seit Monaten nicht mehr angerührt hast. Manchmal hilft auch ein harter Cut, wo alles gelöscht wird, was du nicht mehr aus dem Gedächtnis summen kannst.
  • Setze Meilensteine, die du nach außen kommunizierst
    Zwinge dich dazu, einen Song zum Tag X abzuschließen, indem du das Release Date oder andere Meilensteine kommunizierst.
  • Gib Acht auf den kritischen Pfad bei Kollaborationen
    Wenn du mehrere Bands oder Kollaborationen leitest, ist es unerlässlich die Reihenfolge der Schritte und Abhängigkeiten zu kennen. Treffe Entscheidungen, sobald es auseinander läuft.
  • Lerne „Nein“ zu sagen
    Kommuniziere offen, wenn dich das Leben umhaut oder zu viele Kollaborationen gleichzeitig laufen. Personen die gerne mit dir zusammenarbeiten, werden verstehen, dass du ihnen gerade nicht zur Verfügung stehst. Sie werden auf dich warten oder in einiger Zeit einen neuen Song liefern.
  • Gebe zu, dass du Chaos liebst und mache deine Sachen spontan bis zum Ende!
    Wenn du eher chaotischer und spontaner Natur bist, ist es vergebens deine Kreativität in ein Muster zu zwängen. Gebe zu, dass du dich schnell ablenken lässt und den Kick brauchst. Nutz diesen Fokus um JETZT zu arbeiten und ZIEHE es bis zum Ende DURCH. Gib dir eine Deadline von ein bis zwei Wochen. Wenn du deinen Fokus verloren hast, sag deinen Mitmusiker*innen, dass du raus bist. Dann können sie sich auf eine andere Person einstellen und müssen nicht auf eine seltene Sternenkonstellation warten, wo alles passt.
  • Schreibe schlechte Songs (und schmeiße sie weg)
    Wahrscheinlich bist du in die Falle des Perfektionismus getappt, nachdem du sehr viel Lob und Anerkennung für deinen letzten Song erhalten hast. Der Druck etwas ähnlich Gutes zu schreiben ist sehr hoch und blockiert deine Kreativität. Erlaube dir, einen richtig schlechten Song zu schreiben. Ein klischeebeladenes 4-Akkord Wunder mir grauenhaftem Text. Es wird dich zum Lachen bringen aber auch deinen Songwritingmuskel trainieren. Du kannst nicht mehrere Jahre tolle Songs schreiben, also lass es auch zu, Durchschnittliches und Schlechtes für den Müll zu produzieren. Schreib ein Dutzend Songs die du richtig hasst. Ich wette, dass ein guter dabei sein wird.

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